Krise pur: Um die DDR zu retten, plädierte ein Teil des MfS für mehr Meinungsfreiheit

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Quelle: Berliner Zeitung - Archiv

Schluss mit der Schönfärberei

Krise pur: Um die DDR zu retten, plädierte ein Teil der Stasi für mehr Meinungsfreiheit

Ilko-Sascha Kowalczuk Am 13. November 1989 spielten sich in der DDR-Volkskammer bis dahin unbekannte Szenen ab. Seit fast vier Tagen war der Daseinszweck der Berliner Mauer Geschichte. In der Volkskammer waren knapp 500 Funktionäre, die sich Abgeordnete nannten, zusammengekommen. Erstmals wurden ihnen vom Finanzminister Ernst Höfner sowie vom Chef der Plankommission, Gerhard Schürer, vorsichtig mitgeteilt, dass das Land im Prinzip Bankrott sei. Der berühmte Höhepunkt des Tages ereignete sich aber, als der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke das Wort ergriff. Zum ersten Mal lachte das Auditorium, als er bekannte, sein Ministerium habe "einen außerordentlich hohen Kontakt zu allen werktätigen Menschen". Mielke sprach die Abgeordneten mehrfach mit "Genossen" an, so, wie es bislang üblich war. Eine Blockflöte meldete sich daraufhin und sprach zur "Geschäftsordnung": "In dieser Kammer sitzen nicht nur Genossen." Mielke antwortete historisch und politisch absolut korrekt: "Ich bitte, das ist doch nur eine formale Frage." Und dann sagte Mielke, der ohne vorbereitetes Redemanuskript ans Pult getreten und aus dem Konzept gebracht worden war, unter dem Gelächter der Abgeordneten "Ich liebe doch alle Menschen..." Es wurde das geflügelte Wort der Jahre 1989/90. Millionen lachten seither immer wieder darüber. In Mielkes Ministerium für Staatssicherheit (MfS) entfachte dieser Aufritt blankes Entsetzen, kaum jemand wollte anschließend mehr etwas mit ihm zu tun haben. Nichts hat den inneren Erosionsprozess des MfS so beschleunigt, wie dieser Auftritt des Ministers. Es war zugleich die beste Steilvorlage für die SED-Führung um Krenz und Modrow, nun fortan neben Honecker die gesamte Schuld für das Desaster auf das MfS abzuwälzen.
Historisch stellt sich dieser Vorgang etwas anders dar. Gewiss, Mielke reagierte nicht angemessen. Seine Arbeit und sein Ministerium zum Liebesministerium umzudichten, war nicht nur lachhaft, sondern ein Schlag ins Gesicht für Hunderttausende. Aber, was wollte Mielke mit seiner Rede eigentlich erreichen? Er hatte nicht geplant, Liebeserklärungen abzugeben. Der spontane Ausruf, "Ich liebe doch alle Menschen ...", richtete sich, was meist übersehen wird, allein an die Abgeordneten und war eine Reaktion auf die Frage, ob er sie nun mit "Genossen" anreden solle oder nicht. Mit seiner Rede wollte er die bis vor Minuten noch verbündeten Abgeordneten darauf hinweisen, dass sein Ministerium in den letzten Monaten und Jahren der SED-Führung in dichter Folge realitätsnahe Analysen über die gesellschaftliche Situation vorgelegt und immer wieder darauf hingewiesen hatte, dass bei einer Beibehaltung der bisherigen Politik das System in existenzielle Nöte gerate. "Alle Unzulänglichkeiten, manchmal von ganz kleinen Dingen nur bis zu den größeren, haben wir gemeldet. Wir haben die ganzen Schwierigkeiten aufgezeigt, die entstehen mit der Republikflucht, mit dem Verlassen der Republik." Und weiter: "Wir haben Vorschläge gemacht an der Stelle (...) Glaubt mir doch, wir haben sie gegeben. (...) Das Einzigste (sic) ist, dass vielleicht, was wir gemeldet haben, nicht immer berücksichtigt wurde und nicht eingeschätzt wurde."
Nun wusste fast niemand, was Mielke wirklich meinte. In historischer Perspektive aber hatte er recht. Mielkes Ministerium wollte keinen anderen DDR-Sozialismus, es hat aber die SED seit 1987 in einem Maße auf Gefahren hingewiesen, wie niemals zuvor in der DDR-Geschichte. Mielke bot keine Alternativen an, dies war auch nicht seine Aufgabe, er war nicht reformorientiert. Aber er drängte mehrfach auf politische Lösungen und Veränderungen, was auch immer er sich darunter vorstellte. Es wäre zu einfach, davon auszugehen, Mielke habe immer nur auf einer forcierten Repressionspolitik beharrt. Die Diskussions- und Entwicklungsprozesse seit 1987 zeigen, dass er für vorsichtige Wandlungen im System plädierte: unnachgiebig gegen Feinde und Gegner vorgehen, aber zugleich offensiv der Gesellschaft neue und attraktive politische Angebote unterbreiten.
Seit 1987 hatte die Bearbeitung der Opposition durch das MfS eine neue Stufe erreicht. Der Überfall auf die oppositionelle Umweltbibliothek in den Räumen der Zionsgemeinde im November 1987 waren vom MfS langfristig geplant und von SED-Politbüromitgliedern wie Honecker, Krenz oder Schabowski im Vorfeld gebilligt worden. Das Gleiche gilt für die Vorgänge um die Luxemburg-Liebknecht-Demonstration, als Ausreisewillige und Oppositionelle unter der Luxemburg-Losung "Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden" gegen das Regime demonstrieren wollten und anschließend prägende Köpfe der Opposition wie Bärbel Bohley, Wolfgang und Lotte Templin, Freya Klier, Stefan Krawczyk, Ralf Hirsch, Vera Wollenberger(Lengsfeld) oder Werner Fischer in den Westen gezwungen worden waren.
Bislang wenig bekannt ist aber, dass die Pläne des MfS auf einer Einsicht basierten, die so gar nicht in das öffentliche Bild über die Geheimpolizei passen mögen. Denn Mielke und seine Genossen waren seit 1987 immer mehr zu der Einsicht gekommen, dass mit ihren Mitteln allein der Opposition nicht mehr beizukommen ist. Vor allem deren ständige Präsenz in bundesdeutschen Medien machte der Stasi zu schaffen. Und nach jeder Verhaftung oder Ausweisung schienen zehn neue "Feindpersonen" die entstandene Lücke auszufüllen. Mielkes Ministerium wies deshalb mehrfach darauf hin, dass die Opposition stärker mit politischen denn mit strafrechtlichen oder geheimpolizeilichen Mitteln bekämpft werden müsse - auf letztere sollte freilich nicht verzichtet werden.
Am 20. August 1987 entstand im MfS ein Strategiepapier, das zeigt, dass der Überfall auf die Umweltbibliothek und die dort bestehende illegale Druckerei keineswegs spontan und unüberlegt erfolgte. Die "politisch-operative Arbeit" würde allerdings erschwert, so heißt es dort, durch die Tabuisierung von Gesellschaftsproblemen, Schönfärberei in der Presse und mangelnde Meinungsfreiheit - ein erstaunliches Eingeständnis. Gerade vor dem Hintergrund von Gorbatschows Politik, die viele staatsloyale Menschen begrüßten, müsse sich etwas ändern. Das MfS schlug vor, dass die SED-Bezirkspresse sowie die Junge Welt und der Sonntag bislang verschwiegene oder zu einseitig behandelte Themen aufgreifen; auch Fachblätter sollten sich öffnen. "Darüber hinaus wird vorgeschlagen, ein spezielles periodisch erscheinendes Publikationsorgan zu schaffen, mit dem eine direkte ideologische Auseinandersetzung mit feindlich-negativen ideologischen Konzeptionen und deren Trägern in der DDR geführt wird. Dieses Publikationsorgan soll durch einen Sonderstatus abgesichert werden, um zu vermeiden, dass die in ihm geführten Polemiken regierungsoffiziellen Charakter annehmen und damit auf außenpolitische, außenwirtschaftliche und andere staatliche Interessen der DDR 'durchschlagen'."
Mehrere Möglichkeiten schlugen die MfS-Strategen vor; sie dachten an die "Umprofilierung der Weltbühne", und an die Neugründung von speziellen staatlichen Beratergremien, die eine solche Zeitschrift publizieren sollten. Auch die Herausgabe durch die Akademie der Wissenschaften wurde erwogen oder ihr Erscheinen "als Zeitschrift einer exklusiven Gruppe von Gesellschaftswissenschaftlern". Der Adressatenkreis sollte groß und keineswegs exklusiv sein und SED-Funktionäre, Gesellschaftswissenschaftler, Lehrkräfte an Hochschulen, Staatsbürgerkundelehrer und Blockpartei- und Verbandsfunktionäre erfassen. In ihr sollten nicht nur brisante gesellschaftliche Probleme kontrovers diskutiert werden, sondern auch MfS-Informationen einfließen sowie Nachdrucke von westlichen Beiträgen und aus dem Samisdat der Opposition erfolgen. Zwar ist es zu dieser Zeitschrift nie gekommen, aber dieser erstaunliche Vorschlag verdeutlicht, dass es innerhalb des MfS Kräfte gab, die durchaus sahen, dass mit einer bloßen Repressionspolitik der Opposition nicht beizukommen war. Das Projekt sollte der Sogwirkung der oppositionellen Öffentlichkeitsarbeit entgegenwirken. Denn das MfS beobachtete, dass die Ideen der Opposition via Westmedien bei vielen Menschen auf fruchtbaren Boden stießen. Der zentrale "sachliche Schwerpunkt", so die Strategen im August 1987, bilde die Bekämpfung der "periodisch erscheinenden Untergrundzeitschriften" wie "Grenzfall" oder "Umweltblätter" und anderer öffentlichkeitswirksamer Tätigkeiten.
Mielke war es dann auch, der das SED-Politbüro gerade ab Sommer 1989 fast täglich von den neuen beunruhigenden Entwicklungen informierte. Dort aber spielte man Büromikado. Der MfS-Minister war in der Tat einer der wenigen, der zur politischen Handlung aufforderte. In einer Politbürositzung meinte er: "Während wir sitzen, hat sich die Lage schon verändert." Und entgegen einer langlebigen Legende sagte er auch mehrfach: "Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen."
Es besteht kein Grund, das MfS und Mielke historisch prinzipiell neu zu charakterisieren. Notwendig erscheint es aber, die damaligen Vorgänge genau zu untersuchen. Denn einen langlebigen Erfolg können wir noch heute bestaunen: dass die Wut der Menschen allein das Ministerium für Staatssicherheit traf und weitaus weniger dessen Auftraggeberin, die SED, war nicht zuletzt ein Werk, das die Nachfolger von Erich Honecker, zunächst Egon Krenz und Günter Schabowski, dann Gregor Gysi und Ministerpräsident Hans Modrow, geschickt inszenierten.
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Der Autor ist Historiker, arbeitet als Projektleiter in der Forschungsabteilung der Birthler-Behörde und legte jüngst im Verlag C.H. Beck das Buch "Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR" vor.
 
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