Die Luftwaffe schützte den Himmel über der DDR
Erndtebrück, 09.10.2015.
Der 25. Jahrestag der Wiedervereinigung nimmt im Gedenkjahr 2015 einen besonderen Platz ein. Den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Folgen wurde viel Aufmerksamkeit zuteil. Vergessen wird allerdings zumeist, dass auch die Bundeswehr und ebenso Teile der Nationalen Volksarmee einen immensen Beitrag zur geglückten Wiedervereinigung leisteten.
Souveränität im Luftraum
Nach dem Mauerfall und dem totalen Machtverlust der SED bei den Volkskammerwahlen im Frühjahr 1990 liefen die sogenannten Zwei-plus-Vier-Verhandlungen auf Hochtouren. Es stand bereits fest, dass die Wiedervereinigung beider deutscher Staaten in naher Zukunft vollzogen werden könnte. Nun galt es, in Verhandlungen mit den Besatzungsmächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion, die Einzelheiten und Abläufe zu erörtern. Eine gewichtige Frage war auch jene nach der Souveränität im Luftraum über dem Beitrittsgebiet. So bestanden die Vertreter Sowjetrusslands zunächst darauf, dass die Überwachung und Sicherung des Luftraums bis zum geplanten vollständigen Abzug der russischen Besatzungskräfte bis Ende 1994 Sache der sowjetischen Luftstreitkräfte sein solle. Doch die bundesdeutschen Diplomaten konnten nach zähen Verhandlungen erreichen, dass die Souveränität im Luftraum über Deutschland Aufgabe der Bundesrepublik wurde.
Schnelle pragmatische Lösung gesucht
Integrität des Luftraumes bedeutet, diesen effektiv zu überwachen und Maßnahmen gegen etwaige Luftraumverletzer und Aggressoren ergreifen zu können. Im Kalten Krieg war diese Aufgabe von höchster sicherheitspolitischer Bedeutung, die zunächst von den Besatzungsmächten übernommen wurde. In den sechziger Jahren kamen schließlich die deutschen Truppenteile in ihren jeweiligen Armeen und Bündnissen dazu: im Osten die Funktechnischen Truppen der Luftstreitkräfte der NVA für den Warschauer Pakt, im Westen der Radarführungsdienst (der Vorläufer des heutigen Einsatzführungsdienst) als Teil der Bundesluftwaffe für die NATO. Letzterer stand nun angesichts der anstehenden Wiedervereinigung vor der schwierigen Aufgabe, dass der Luftraum über den neuen Bundesländern ab dem 3. Oktober 1990 lückenlos überwacht werden musste. Bei der Realisierung des Projektes konnten sich die Verantwortlichen nicht auf die Unterstützung der NATO-Partner verlassen. Eine Auflage der Sowjets im Vertragswerk verbot den Einsatz von NATO-Streitkräften in den neuen Bundesländern bis zum endgültigen Abzug aller russischen Truppenteile. Die Luftwaffe musste das Problem also in eigener, nationaler Verantwortlichkeit lösen. Schnell stellte sich heraus, dass die Luftraumüberwachung in den neuen Bundesländern ohne den Einsatz von Personal und Technik der Funktechnischen Truppen nicht zu machen sei. Deren taktisches Konzept unterschied sich jedoch grundlegend von jenem des Radarführungsdienstes. Zudem war die verwendete sowjetische Technik nicht mit den Radargeräten und Führungssystemen der Luftwaffe der Bundeswehr kompatibel. Angesichts der knappen verbleibenden Zeit galt es, schnelle und pragmatische Lösungen zu finden.
Gefechtsstand zur Überwachung des ostdeutschen Luftraumes in Erndtebrück
Die Lösung sah so aus: Teile der Funktechnischen Truppen sollten auch nach der Wiedervereinigung für eine begrenzte Zeit im Dienst belassen werden, um mit ihren Radargeräten den ostdeutschen Luftraum weiterhin zu überwachen. Das Problem der Datenanbindung sollte mithilfe eines vergleichsweise einfachen Systems zur Darstellung der Luftlage gelöst werden, welches die NVA im Selbstbau entwickelt hatte. Dieses sollte in eine westdeutsche Luftverteidigungsstellung gebracht und über Telefonleitungen an den NVA-Gefechtsstand Fürstenwalde angeschlossen werden, bei dem alle Luftlagedaten Ostdeutschlands gesammelt wurden. Die Wahl fiel dabei auf Erndtebrück. Im Bunker „Erich“ befand sich bereits ein Control and Reporting Center (CRC) der NATO. Aber in Erndtebrück hatte man, trotz der hier stationierten Ausbildungskomponenten, ausreichende Kapazitäten, um auch noch einen nationalen Gefechtsstand samt Technik zur Überwachung des ostdeutschen Luftraumes unterzubringen.
Operation am „offenen Herzen“
Erst Ende September traf ein kleines Team der NVA ein, um die mitgebrachte Technik im Bunker Erich zu installieren. Man kann heute wohl nur schwer nachvollziehen, wie sich die Soldaten beider Seiten dabei gefühlt haben. Einerseits die Soldaten der Funktechnischen Truppen, deren Staat in einigen Tagen aufhören sollte zu existieren, deren Material und Expertise aber noch für die Zukunft gebraucht wurde. Andererseits jene Soldaten der Luftwaffe, die ihren ehemaligen Feinden Zutritt zu einer geheimen Luftwaffenkampfführungsanlage gewähren mussten und bald eine noch vor kurzem unvorstellbare Aufgabe zu übernehmen hatten. Nach einer kurzen, aber sehr intensiven Arbeitsphase war die Operation am „offenen Herzen“ jedoch geglückt: auch die Luftwaffe trug so ihren Teil zur Wiedervereinigung bei. Mit Hilfe des amerikanischen Radars am Berliner Flughafen Tempelhof, sowie den Radarstellungen der Funktechnischen Truppen, überwachten ab dem 3. Oktober 0 Uhr Stabsoffiziere des Radarführungsdienst von Erndtebrück aus den Luftraum über den neuen deutschen Bundesländern. Die nationale Alarmrotte, das heißt jene Flugzeuge, welche zum Abfangen von Luftraumverletzern und etwaigen Feindflugzeugen über Ostdeutschland bestimmt waren, stellten Geschwader aus Pferdsfeld und Rheine/Hopsten.
Nationale Luftraumüberwachung
Erst im Oktober 1992 wurde die Zweiteilung des Nationalen Sector Operation Center (NSOC) aufgehoben. Der nationale Gefechtsstand Erndtebrück gab die alleinige Verantwortung für die Luftraumüberwachung Ostdeutschlands an den Gefechtsstand Fürstenwalde ab. Jedoch war auch dieses Kapitel letztlich nur ein Zwischenspiel. Mit dem vollständigen Abzug der russischen Besatzungstruppen und der zum Jahresbeginn 1995 vollzogenen Integration der neuen Bundesländer in die Bündnisstruktur der NATO entfiel die Notwendigkeit einer nationalen Luftraumüberwachung. Da sich der Ausbau der Infrastruktur noch länger hinzog, konnte das letzte Radargerät sowjetischer Bauart erst 1998 abgeschaltet werden.
Luftwaffen „Immer im Einsatz“
Die Integration von Teilen der Funktechnischen Truppen der NVA in den Radarführungsdienst der Luftwaffe kann als erstes erfolgreiches militärisches Projekt der deutschen Einheit begriffen werden. Noch bevor die Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 formal vollzogen wurde, stand der Radarführungsdienst als erster einsatzbereiter Dienstteilbereich der „Einheits-Bundeswehr“ bereit, um die Sicherheit im deutschen Luftraum zu gewährleisten.
Stand vom: 09.10.15 | Autor: Christian Hauck