Friedenstauben für die Waffenbrüder
Heute vor 25 Jahren begann der Abzug der sowjetischen Mittelstreckenraketen aus der DDR
POTSDAM - Pünktlich um 10 Uhr gab die Angestellte der Deutschen Reichsbahn in Bischofswerda die Strecke frei und der Raketenzug setzte sich langsam in Bewegung. Das „Neue Deutschland“ überschlug sich am folgenden Tag geradezu vor Begeisterung. Mit Friedenstauben und selbst gebastelten Geschenken seien Jung- und Thälmannpioniere zum Bahnhof geeilt, um „den sowjetischen Freunden Dank zu sagen für erfüllte Soldatenpflicht“, ist da zu lesen. Es erklangen „Hochrufe auf den Bruderbund zwischen der DDR und der Sowjetunion“. Und die „Märkische Volksstimme“ in Potsdam jubelte: „Freie Fahrt für Abrüstung und für die Entspannung“.
Das war vor genau 25 Jahren, am 25. Februar 1988. Damals begann der Abzug sowjetischer Mittelstreckenraketen aus Ostdeutschland. Hochoffiziell, mit Militärmusik, Ansprachen und Hymnen wurden in Waren (Mecklenburg-Vorpommern) und Bischofswerda (Sachsen) die ersten Züge mit Abschussrampen und Soldaten verabschiedet. Ein historischer Tag: Erstmals hatten die Supermächte USA und UdSSR beschlossen, eine ganze Waffengattung zu verschrotten.
Mathias Hüsni war damals mit dabei. Er stand in Bischofswerda, einer Ortschaft unweit von Dresden, im Schneeregen auf dem Bahnsteig. „Es herrschte ja größte Geheimhaltung“, sagt der heute 58-jährige Lehrer aus Burkau (Sachsen). „Bei der Verladung wollte ich sehen, welche Raketen hier stationiert waren. Ich wollte unbedingt ein Foto machen.“ Aber die mächtigen Fahrzeuge waren mit undurchdringlichen Planen bedeckt. „Westliche Journalisten baten: Zeigt uns doch so ein Ding! Da haben sie die Plane zurückgeschlagen. Ich hatte ja keine Akkreditierung. Deshalb hab ich meinen Sohn Marcel hingestellt und gesagt: Ich mach doch nur ein Foto von ihm!“ Bilder mit dem kleinen Jungen vor der mächtigen Rakete gingen damals um die Welt.
So bekamen die Einwohner von Bischofswerda wenigstens beim Abzug zu sehen, was sie jahrelang in ihren Wäldern beherbergt hatten. Die Atomraketen vom Typ Temp-S (Nato-Bezeichnung: SS-12M „Scaleboard“) waren als Antwort auf die Nato-Nachrüstung 1983/84 in die DDR gekommen. Eine Brigade wurde im Norden stationiert, eine zweite im Süden, mit einer Alarmstellung im Taucherwald – nicht weit von Bischofswerda entfernt. Hüsnis Schule lag in direkter Nähe. „Rings um dieses Waldstück, da kamen die Kinder her. Bei einer Vorbereitungswoche mussten wir Strumpfmasken bauen. Aus einem Stück Strumpf und einem Papiertaschentuch. Das stülpt man sich über den Kopf, als Schutz vor radioaktivem Fallout.“ Hüsni berichtet: „Die Leute hatten Angst.“
Wovon die Einheimischen keine Ahnung hatten, war beim Gegner kein Geheimnis. Die Aufklärer der US-Militärverbindungsmission machten sich einen Sport daraus, Raketentransporten der Sowjetarmee aufzulauern. Und die Spione des Ministeriums für Staatssicherheit brauchten nur kurze Zeit, um die Zahl der atomaren Pershing-Gefechtsköpfe in den diversen Depots herauszufinden.
Vier Jahre lang standen sich auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze gewaltige Vernichtungskräfte gegenüber. Vier Jahre lang waren der idyllische Taucherwald, waren Hüsnis Schule und Bischofswerda Zielgebiete ersten Ranges. Dann einigten sich die Supermächte überraschend und die Raketen zogen ab. Die DDR-Führung versuchte, das mit aller Macht propagandistisch auszuschlachten. Immerhin hatte Staatschef Erich Honecker schon vorher gefordert: „Das Teufelszeug muss weg!“
Tatsächlich versetzte der Abzug den Sicherheitsapparat in gewaltige Aufregung. Einsatzgruppen wurden gebildet und „Maßnahmepläne“ erarbeitet, damit bei der Verabschiedung nichts schiefging. Auf Stasi-Deutsch lautete der Auftrag: „Einflussnahme auf die Auswahl der Teilnehmer an den Freundschaftsmeetings und Sicherung des Einsatzes eines hohen Anteils und der richtigen Dislozierung politisch zuverlässiger, inoffizieller und gesellschaftlicher Kräfte im Handlungsraum.“ Gemeint waren die Bahnhöfe von Waren und Bischofswerda.
Vielleicht lag es an dieser Allgegenwart der Stasi, dass Reporter des westdeutschen „Spiegel“ die Stimmung am 25. Februar 1988 eher als „steif“ empfanden. „Die Übergabe von Geschenken in Plastiktüten (Inhalt: kleine Teppiche und Schachspiele) wirkte verkrampft“, hieß es spöttisch. „Erst als zwei übergewichtige Fleischer einen Riesenfresskorb überreichten, lockerte sich die Szene.“
Mathias Hüsni selbst hat das anders in Erinnerung. „Es herrschte eine ungeheuer freudige Atmosphäre“, berichtet er. „Alle hatten den Eindruck: Das ist heute ein ganz großer Tag.“ Pünktlich um 10 Uhr gab Reichsbahnobersekretärin Christine Bernt die Strecke frei und der Raketenzug setzte sich langsam in Bewegung. Die russischen Soldaten rollten einer ungewissen Zukunft entgegen: Im fernen Georgien warteten Unterkünfte ohne Fenster und ohne Fußböden auf sie.
Der gefährlichste Teil der Fracht war schon ein paar Tage vorher auf die Reise gegangen. „Die Kernsprengköpfe“, hatte die Staatssicherheit vom sowjetischen Geheimdienst KGB erfahren, „werden unter strengster Geheimhaltung mittels Sondertransport (Zug) bereits am 18. Februar 1988 aus der DDR abgezogen.“
(Quelle: BStU, MfS, HA II, Nr. 23326)
Von Klaus Stark
Nato-Nachrüstung und INF-Vertrag:
* Im Rahmen der sogenannten Nato-Nachrüstung hatten die USA im Herbst 1983 begonnen, in der Bundesrepublik Pershing-2-Raketen und Marschflugkörper („Flügelraketen“) aufzustellen. Noch heute ist die politische Bewertung umstritten. Während die Nato stets von „Nachrüstung“ sprach, also einer Antwort auf die Aufrüstung der UdSSR, fühlte sich diese wegen der kurzen Flugzeit der Pershing 2 extrem bedroht und schaffte als Antwort neue Raketen in die DDR.
* Manfred Görtemaker, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Potsdam, hält das für eine Art „Steinzeit“- Mentalität: „Wenn auf der einen Seite eine Rakete steht, wollen sie auf der anderen auch eine haben.“ Tatsächlich war das atomare Gleichgewicht damit praktisch nicht mehr beherrschbar geworden: „Es ist höchst gefährlich, wenn Sie innerhalb von drei bis fünf Minuten entscheiden müssen, ob Sie einen atomaren Gegenschlag starten oder nicht.“
* Vielleicht auch deswegen unterschrieben der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow und US-Präsident Ronald Reagan am 8. Dezember 1987 den INF-Vertrag. Dieser sah die Vernichtung aller landgestützten Flugkörper mit einer Reichweite von 500 bis 5500 Kilometern vor – inklusive Pershing-2- und Temp-S-Raketen.
* Hans-Joachim Schmidt von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung sagt: „Damit wurde erstmals eine ganze Waffenkategorie abgeschafft. Das war ein wesentlicher Sicherheitsgewinn für Europa.“ In seinen Augen kündigten sich in dem Vertrag schon die späteren Umbrüche in der Sowjetunion an: „Gorbatschow hatte erkannt, dass er ökonomisch im Rüstungswettlauf mit den USA nicht mehr mithalten kann.“