Putin rückt Raketen näher an Deutschland heran
Russland lässt mobile Abschuss-Systeme an den EU-Grenzen stationieren und markiert damit seine geostrategische Interessenzone. Nicht nur im Baltikum, in Polen und der Ukraine wachsen die Sorgen.
Gerade hat Wladimir Putin eine betont defensive Rede an die Nation gehalten: Man wolle keine Supermacht sein, niemandem vorschreiben, wie er zu leben habe, und suche friedliche und politische Lösungen für die Konflikte im russischen Interessenbereich.
Die Taten des russischen Präsidenten allerdings sprechen eine deutlich andere Sprache. Er übt politischen und wirtschaftlichen Druck auf die Ukraine aus – manche Beobachter nennen das Erpressung –, damit das wichtige Bruderland nicht aus der Phalanx ehemaliger Sowjetrepubliken ausbricht und sich auf den Weg nach Kerneuropa macht.
Es ist die berüchtigte Zuckerbrot-und-Peitsche-Politik des Kreml. In Bezug auf die Ukraine bedeutet das: Stark subventionierte Gaslieferungen und ein Gas-Pipeline-Konsortium. Als Gegenleistung erwartet Moskau unbedingte Loyalität. Europa ließ sich auf ein Geschacher um Kiew nicht ein. Die Assoziationsverträge wanderten wieder in die Brüsseler Schubläden.
Nun verschärft Russland die Gangart. Neben seiner wirtschaftspolitischen Macht sollen die Europäer nun auch die militärische spüren. Nach Angaben des russischen Verteidigungsministeriums wurden mehrere Kurzstreckenraketen vom Typ "Iskander" näher an die Grenzen zur Europäischen Union verlegt.
Eberswalde im Radius der Iskander-Raketen
Ein Ministeriumssprecher sagte, Iskander-Raketensysteme seien in der "Militärregion West" stationiert worden. Die umfasst nach dem Muster russischer Militärzonen sowohl die russische Exklave Kaliningrad als auch die Hauptstadt Moskau und die Metropole St. Petersburg. Im Süden reicht die Zone bis zur Ukraine. Wenn die mobilen Abschusssysteme an der Grenze zu Weißrussland oder der Ukraine in Marsch gesetzt werden, befinden sich im Radius der Raketen große Landesteile beider Staaten, von Kaliningrad können Raketen deutschen Boden erreichen und etwa Eberswalde in Brandenburg treffen.
Sämtliche angrenzenden Staaten sind in Sorge. Das polnische Außenministerium erklärte, "Projekte zur Verlegung von Iskander-Raketen in die Region von Kaliningrad" seien beunruhigend. Dies habe Polen bereits "bei zahlreichen Anlässen deutlich gemacht". Warschau habe "keine offiziellen russischen Angaben zu der Frage" erhalten. Die Entwicklung sei "eine Angelegenheit der gesamten Nato" und erfordere "Konsultationen und Reaktionen".
"Alarmierende Neuigkeit"
Der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks nannte die Entwicklung eine "alarmierende Neuigkeit". Die Verlegung verschiebe zwar nicht das Kräfteverhältnis zwischen Russland und der Nato insgesamt, aber das Verhältnis "in der Region".
Die Iskander-Rakete ist ein Marschflugkörper, eine taktische ballistische Boden-Boden-Rakete aus russischer Produktion und gehört zur Klasse der Kurzstreckenraketen (SRBM). Der Nato-Code lautet SS-26 Stone. Es gibt mehrere Varianten der Rakete, die modernste hat eine Reichweite von bis zu 500 Kilometern. Der erste Teststart erfolgte 1996. Nach weiteren Anpassungen begann 2005 die Auslieferung an die russischen Streitkräfte.
Die wirksamste Variante der Iskander, die sich nach "Alexander dem Großen" benennt, heißt "Tender", hat eine Nutzlast von mehr als 800 Kilogramm Sprengstoff und eine Reichweite von 415 Kilometern. Die Iskander-Raketen oder auch SS 26 ist eine moderne ballistische Rakete mit sehr hoher Zielgenauigkeit.
Drei Raketen pro mobiler Einheit
Das System ist auf geländegängigen Lastwagen montiert, somit also sehr mobil und schnell verlegbar. Vom Befehl des Abschusses bis zum Raketenstart braucht eine geübte russische Besatzungsmannschaft nicht mehr als 16 Minuten. Jedes System umfasst drei Raketen, die zweite und dritte kann im Abstand von 40 Sekunden gezündet werden.
Einige mobile Abschusseinheiten arbeiten mit einem digitalen Radarsystem in der Lenkwaffenspitze. Das Radarsystem steuert die Rakete im Zielendanflug selbstständig auf einen Punkt zu, welcher zuvor auf einer digitalen Radar-Satellitenkarte markiert wurde. Mit diesem Zusatzsystem wird eine Präzision von 10 bis 50 Metern erreicht, die Streuung ist also gering.
Durch ihre sehr flache Flugbahn ist sie vom gegnerischen Radar schwer zu erfassen. Selbst wenn sie entdeckt wird, ist das Abschießen durch Flugabwehrsysteme oder Abfangjäger nur schwer möglich, denn die Iskander vollzieht selbstständige und abrupte Ausweichmanöver.
Abfangjäger und Luftabwehr fast ohne Chance
Im Zielanflug werden automatisch mehrere Täuschkörper ausgestoßen, ein effektiver Störsender befindet sich an Bord eines jeden Flugkörpers, dessen Oberfläche mit einer radarabsorbierenden Schutzschicht überzogen ist.
Während des Kaukasus-Konflikts 2008 wurden mindestens drei SS-26-Iskander-Raketen gegen Georgien eingesetzt, die mit konventionellen Sprengköpfen bestückt waren. Die Iskander kann aber auch nukleare Sprengköpfe mit einer Sprengkraft von bis zu 200 Kilotonnen tragen.
Vier SS-26-Brigaden mit je zwölf mobilen Abschussrampen sind in den russischen Streitkräften im Einsatz. Bis zum Ende 2015 sollen 60 Systeme in Dienst gestellt werden.
Russland verteidigt sein "Kernland"
Mit der Stationierung der Raketen an den östlichen Grenzen der EU macht Russland seine geostrategischen Interessen sehr deutlich. Moskau ist offenbar nicht gewillt, weiteres "Kernland" der ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes abzugeben.
Mit der Stationierung der Raketen an den östlichen Grenzen der EU macht Russland seine geostrategischen Interessen sehr deutlich. Moskau ist offenbar nicht gewillt, weiteres "Kernland" der ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes abzugeben.
Als US-Präsident Barack Obama im September 2009 erklärte, auf ein Raketen-Abwehrschild in Polen und Tschechien zu verzichten, schien sich die Lage zwischen den beiden großen Rivalen zu entschärfen. Die Stationierung der Iskander-Raketen in Kaliningrad als Gegenreaktion auf den Nato-Schirm war kein Thema mehr.
Anschließende Verhandlungen mit den USA bezüglich des europäischen Raketenschilds scheiterten jedoch. Hinzu kam die volatile Lage in der Ukraine. Nun sind die Raketen dort, wo sie eigentlich nie hin sollten, gerichtet auf Osteuropa – und Deutschland.
Als US-Präsident Barack Obama im September 2009 erklärte, auf ein Raketen-Abwehrschild in Polen und Tschechien zu verzichten, schien sich die Lage zwischen den beiden großen Rivalen zu entschärfen. Die Stationierung der Iskander-Raketen in Kaliningrad als Gegenreaktion auf den Nato-Schirm war kein Thema mehr.
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Quelle:
http://www.welt.de/politik/ausland/...eckt-Raketen-naeher-an-Deutschland-heran.html